Ausstellung

Autor*in: Fulya Kamisli, Angelina Kretzer, Aylin Martin, Prof. Dr. Philipp Oswalt, Marie Scheiber, Naemi Sünderhauf

Prolog

1973 trat Lucius Burckhardt die Professur für die sozioökonomischen Grundlagen urbaner Systeme an der Gesamthochschule Kassel (GhK) an und war über zwanzig Jahre bis zu seiner Emeritierung 1993 eine der prägenden Figuren des Fachbereichs ASL. Unsere Ausstellung widmet sich ihm und seinem Wirken. Wir thematisieren nicht die Gesamtheit seiner Tätigkeit an der GhK, sondern fokussieren auf seine  – oft legendären – Aktionen und Projekte, bei denen er mit Kolleg*innen, Freund*innen und Studierenden den Campus der Hochschule verließ und in Stadt und Landschaft intervenierte. Er wollte damit zu neuen Sichtweisen kommen, forderte etablierte Strukturen und Denkweisen heraus und machte performativ alternative Positionen sichtbar. Insgesamt konnten wir zwanzig solcher Projekte identifizieren, von denen zehn in der Ausstellung genauer behandelt werden.

Die Ausstellung zeigt neben den zehn Projektvorstellungen in Text und Bild eine räumliche Kartierung der Projekte in Modellen, eine Gesamtchronologie und eine Auswahl von Personen, die an mehreren dieser Projekte mitgewirkt haben. Ergänzend haben wir Videointerviews mit Beteiligten geführt, wobei hier zum Teil andere Projekte zur Sprache kommen als sonst in der Ausstellung. Um in den verschiedenen Darstellungen die Projekte schnell wiedererkennen zu können, haben wir jedes mit einer eigenen Farbe versehen.

Zur Einführung wollen wir auf dreierlei hinweisen:

1) Lucius Burckhardt hat für die Beschreibung der vorgestellten Projekte und der damit verbundenen Praktiken in den 1980er Jahren den Begriff der „Spaziergangswissenschaften“ eingeführt. Wir haben den Begriff bewusst vermieden. Zum einem bündelt er Projekte, die trotz mancher Verwandtschaft heterogenen Charakters sind: Bei machen handelt es sich um Exkursionen, bei denen anhand von Thesen eine Örtlichkeit – oft über viele Tage lang – von einer Gruppe gemeinsam untersucht wird. Andere Projekte sind Prozessionen oder Demonstrationen, die mit künstlerischen Mitteln performativ und kollektiv in den öffentlichen Raum intervenieren und mediale Aufmerksamkeit erzielen. Der Kern einer weiteren Gruppe von Projekten – um die wesentlichsten Typen zu benennen – sind hingegen Open-Calls, Publikationen und Ausstellungen, die auf vorheriger Raumerkundung basieren.

2) Wir meiden die Wortsetzung „Spaziergangswissenschaft“, weil sie ihren erfrischend-provokativen Charakter im damaligen Bildungssystem nach vier Jahrzehnten längst verloren hat. Der Begriff verschleiert den aktivistischen Charakter mancher dieser Projekte. Er suggeriert einen entspannten, kontemplativen Zeitvertreib, eine Haltung der Entschleunigung, eine eher bürgerliche, nicht selten auch touristische Perspektive. Doch uns interessiert – u.a. in Zeiten von Klimakrise und Klimaklebern – ein anderes Verständnis dieser Praktiken, mit dem wir andere Anschlussfähigkeit für die Konstellationen und Dringlichkeiten von heute entdecken können.

Wenn wir nun von Aktivismus sprechen, wollen wir nicht versäumen, den dadaistischen oder surrealistischen Charakter vieler Interventionen und Argumentationen zu betonen. Trotz aller Grundsätzlichkeit, um die hierbei gerungen wurde, gibt es ein spielerisches Moment, eine Freude an Humor und Ironie. Etwas, was in heutigen Praktiken selten vorkommt, aber dessen produktive Kraft, ganz abgesehen von einer Lebendesfreude, nicht zu unterschätzen ist.

3) Posthum ist die Person Lucius Burckhardt zu einer – auch international – bekannten Marke geworden. Dies verschleiert, dass vieles, wofür er heute steht, nicht einer einzelnen Person zuzuschreiben ist, sondern aus gemeinschaftlichem Tun hervorhing. Dazu zu allererst seine Frau Annemarie, die fast immer eine gleichwertiger Partnerin war, aber auch die beteiligten Studierenden, sowie Kolleg*innen von der Gesamthochschule und befreundete Künstler*innen und Intellektuelle von außerhalb, von denen immer wieder zentrale Anregungen ausgingen, was auch gerade für Schlüsselelemente wie den Spaziergang oder die Idee des „kleinstmöglichen Eingriffs“ gilt. Sicherlich, Lucius war der, der solche Ideen zusammenführte, fortspann und am eloquentesten zum Ausdruck brachte. Auch schuf er mit Annemarie immer wieder Situationen, in denen sich dieses Denken entwickeln und entfalten konnte.

Ausstellungsteam:

Fulya Kamisli, Angelina Kretzer, Aylin Martin, Prof. Dr. Philipp Oswalt, Marie Scheiber, Naemi Sünderhauf

mit Joscha Bauer (Grafik/ Videoschnitt), Hezrat Haviri und Jonas Kramer (Layout), Dennis Lange (Holzarbeiten)

Dank insbesondere an Cordula Kremer (doku:lab), Heidrun Hubenthul, Helmut Aebischer, Martin Schmitz, Monika Nikolic und Kurt Theobald.

Nicolas Wefers
Nicolas Wefers

Interviews mit beteiligten Personen

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